Dienstag, 25. September 2012

Julia Dibbern: "Geborgene Babys - Beziehung statt Erziehung."



Julia Dibbern - "Geborgene Babys - Beziehung statt Erziehung", Anahita Verlag 2004.

Julia Dibberns Buch "Geborgene Babys" hat das Zeug, die eigenen Vorstellungen über Schwangerschaft, das Kinderkriegen und Erziehung gehörig zu erschüttern. 
Meine Sichtweise auf Kinder jedenfalls geriet gehörig durcheinander. Es ist keiner der  "typischen" Babyratgeber, die den Markt beständig überschwemmen und will auch keiner sein. 
Es ist ein emotionales, sehr persönliches Buch - eine "Reise zu sich selbst", wie sie in der Widmung an ihren Sohn auf den ersten Seiten schreibt. 
Und dennoch:  Es regt zum Nachdenken an, nicht nur darüber, wie ich selbst mit meinen Kindern umgehen möchte, um es stark und gesund aufwachsen zu sehen, sondern letzlich auch darüber, wie wir in unserer Gesellschaft miteinander leben wollen. Dieses Buch schafft Möglichkeiten.

Julia Dibbern hinterfragt die Normen der Schwangerschaftsbetreuung und Geburtenpraxis in Deutschland - entlarvt Vorurteile, Ammenmärchen und legt immer wieder den Finger in die Wunde. Warum wird man als Schwangere so schnell zum "Risiko"? 
Warum führt der medizinisch-technische Fortschritt allzu oft zu traumatischen Geburtserlebnissen von Mutter und Kind? 
Wie kann die Wichtigkeit des Bondings in den ersten Lebensminuten wieder ein Gut sein, was in unserer Gesellschaft tief verankert in Köpfen und Herzen ist und wie selbstverständlich weitergegeben wird?

Die Autorin berichtet von ihren persönlichen Erlebnissen in Schwangerschaft, bei der Geburt - von ihrer Veränderung, ihrer Emanzipation in Bezug auf das, was sie für sich und ihre Kinder als wichtig und richtig erkannt hat. Ebenso lässt sie andere Frauen zu Wort kommen. 
Der Kosmos des "Attachment Parenting" ist die Welt, in der diese Wandlung möglich wurde - ein bedürfnisorientierter Umgang mit dem eigenen Kind. Dazu gehören Stillen, viel Körperkontakt durch Tragen, gemeinsames Schlafen, die Absage an "Schlafprogramme" und "Schreien lassen" und die "Elimination Communication", das Aufwachsen des Kindes ohne Windeln.
Was Dibbern schreibt, ist nicht neu, grade nicht für Eltern, die auch vor der Lektüre schon etwas vom Continuum Concept, Jean Liedloff oder dem amerikanischen Kinderarzt William Sears gehört haben. Aber sie beschreibt gut, erklärt deutlich, klar und stringent und beantwortet die gängisten Fragen zu Windelfrei, Langzeitstillen und "Baby led weaning."
Aber was sie schreibt, ist so schrecklich plausibel, so schrecklich natürlich, so wunderbar einfach - dass man sich fragt, warum man selbst als belesene, aufgeklärte Mutter auf die ein oder andere Idee noch nicht selbst gekommen ist. Oder warum man ja eigentlich wollte, aber dann nicht konnte. Im Übrigen auch dann, wenn man nicht jede einzelne der Ideen gleichermaßen überzeugend findet.
Julia Dibbern ist wütend - und aus dieser Wut ensteht ein ungeheurer MUT, den dieses Buch nach außen transportiert . Dazu, mündig zu werden bzgl. der eigenen Entscheidungen in Schwangerschaft und während der Geburt. 
Mut dazu, dass das Stillen auch mit Schwierigkeiten klappen kann.
Mut, das Gespenst des "Verwöhnens", dass in unserer Gesellschaft in vielen Köpfen noch immer sein Unwesen treibt, endgültig in die Mottenkiste zu verbannen und wieder der eigenen Intuition zu folgen.
Mut, sich und dem eigenen Kind zu vertrauen und gemeinsam den Weg zu gehen, anstatt es "zuzustöpseln" oder zu "erziehen" - denn Kinder geben immer ihr Bestes!
Dabei geht es nicht darum, alle Frauen in die eine, richtige, allein seligmachende Richtung zu bekehren - sondern ihnen durch Informationen zu einer Wahl zu verhelfen. Wer immer nur hört, das gemeinsame Familienbett verziehe das Kind für alle Ewigkeit, wird vielleicht nie den Mut aufbringen, sein Baby mit unter die eigenen Decke zu nehmen - und eine ganze Welt an Erfahrungen verpassen.
Wer mit diesem Buch Mut tankt, mehr zu tun, als das eigene Kind "irgendwie" groß zu ziehen, kann einen Beitrag dazu leisten, dass sich in unserer Gesellschaft, "die sich [nicht] besonders hervortut, was Bindungsfähigkeit, konstruktive Problemlösungen und gesunden Menschenverstand angeht" (S.49), etwas ändert. Denn es geht bestimmt besser.

3 Kommentare:

  1. Ich habe auch schon viel von dem Buch gehört aber immer mit dem Anklang, dass es in Auszügen doch sehr schwer umzusetzen sei. Findest du die Anregungen im Buch realistisch?!

    Liebe Grüße
    Saskia

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    1. Es ist überhaupt nicht wichtig, nach dem Lesen von Dibbern die Anregungen umzusetzen. Ich glaube, der Sinn des Buches ist einfach, dass eine Familie angeregt wird das für sich Richtige zu finden. Jede Familie ist anders. Jedes Elternteil bringt seine eigene Geschichte mit. Und in diesen Kontext wird ein Kind hinein geboren. Es gibt die "Mainstream-Erziehung" - so wie es scheinbar alle machen - und das, was ein Baby von Natur aus an Bedürfnissen mitbringt. Toll wäre es, wenn jeder auf sein Bauchgefühl hört und seinen eignen Weg dazwischen findet.


      Liebe Grüße,
      Christina

      http://123-windelfrei.de/

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  2. Ich denke, es geht nicht darum, alles 1:1 umzusetzen, weil es nur dann "richtig" ist (tu ich ja, wie du weisst, auch nicht, und liebe das Buch trotzdem!)
    Es geht darum, die WAHL zu haben, weil man um verschiedene Möglichkeiten weiß. Und um Bestärkung darin, auf die eigene Kraft zu vertrauen und aufs eigene Bauchgefühl zu hören.
    Julia Dibbern hat es mal auf ihrer Website irgendwo geschrieben, dass man sich einfach immer fragen darf: "Wie fühlt sich das für mich an, für meine Familie, wie reagiert mein Kind darauf?". Es geht um Sensibilität, nicht um das abarbeiten eines Katalogs. Letztlich sind es alles nur Beispiele, ist es nur ein Weg von vielen, vielen regenbogenbunten Abstufungen! :-)

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